Wie beginnen - und wie weiter?

 

Die wichtigsten Schritte des Gemeinschaftsaufbaus

"Die Sache wird begriffen und für gut befunden, die Idee nimmt Gestalt an und soll Praxis werden - da steht der Mensch dem Menschen im Wege. Das Menschliche scheitert an den Menschlichkeiten" (Erich Mühsam)

Diese Diagnose aus dem Jahr 1919 über die damaligen Versuche eines anderen besseren Lebens trifft leider immer noch häufig zu. Viele gut gemeinte Initiativen für eine Gemeinschaftsgründung scheitern schon in den Anfängen. Alle wollen ja eigentlich das Gleiche - aber eben anders!

Man sitzt zusammen, oft mit wildfremden Menschen, führt endlose Diskussionen - und der gemeinsame Traum gähnt gelangweilt in der Ecke. Man versucht, einen Konsens über die gemeinsamen Ziele zu formulieren - und endet wieder bei unverbindlichen Allgemeinplätzen. Man macht Umsetzungskonzepte und endet bei formalen Plänen, die keinen gemeinsamen Geist atmen. Die Leute sind eben zu verschieden... !? Die Zeit drängt, die ersten springen schon wieder ab. "Wann treffen wir uns das nächste mal wieder?" (vielleicht gar nicht mehr?)

Auch wenn es nicht immer ganz so schlimm ausgehen muß, rächen sich viele Anfangsfehler oft im weiteren Verlauf des Zusammenlebens. Denn wenn man mit den "falschen" Menschen oder Strukturen erstmal auf dem Weg ist, kann der Kurs ohne größere menschliche Verletzungen (und oft auch materielle Verluste) nicht mehr korrigiert werden.

Zum Glück gibt es mittlerweile ein größeres Wissen über Gemeinschaftsbildung und die Funktionsweise der menschlichen Seele. Einige Erfahrungen und Anregungen über die sinnvollen ersten Aufbauschritte aber auch über die Dynamik der weiteren Stufen der Gemeinschaftsentwicklung sind in diesem Artikel idealtypisch zusammengefaßt. Hier sind ein paar Anregungen für eine sinnvolle Herangehensweise:

 

 

7 erste Schritte zum Gemeinschaftsaufbau

Die eigene innere Vision und persönliche Motivation klären

Die Basis der Kommunikation ist immer die eigene Klarheit über meine Ziele und Kompetenzen. Insbesondere braucht es die ehrliche Betrachtung meiner Defizite, versteckten Motive und kompensatorischen Erwartungen an die anderen. Denn oft decken sich die schönen offiziellen Ziele nicht mit den persönlichen Erwartungen und Selbstzweifeln. Beides muss aber von Anfang an voll offengelegt werden.

 

 

Eine kleine Gruppe Gleichgesinnter suchen, bei denen die Motivation und Gruppenchemie stimmt (nicht mehr als 5-12 Personen)

In einer zu großen Gruppe läßt sich oft kein genügend klarer Konsens mehr erzielen. Andererseits wäre z.B. eine Kleinfamilie oder andere symbiotische Strukturen als alleiniges Samenkorn zu einseitig. Wichtig ist die innere Stimmigkeit und gegenseitige Anerkennung innerhalb dieser "Kerngruppe". Die Entschlossenheit zum gemeinsamen Handeln in vollem Bewußtsein der inhaltlichen und persönlichen Differenzierungen ist der innere Auftrag dieser Gruppe.

 

Gemeinsam die wesentlichen Grundlagen festlegen, d.h. die Vision klar formulieren, aber die individuellen Wege und Freiräume offen lassen

In dieser Gruppe sollte auf der Basis einer starken Vision ein Grundkonzept erarbeitet werden, das alle wesentlichen gemeinsamen Ziele formuliert, aber auch genügend individuelle Freiheit in der Gestaltung läßt. Je eindeutiger die grundsätzlichen Ziele und Schwerpunkte des Projektes definiert werden, desto nachhaltiger können sich Interessierte für oder gegen eine Teilnahme entscheiden und desto weniger Regeln im Detail und Streit um deren Gestaltung wird es später geben. Regeln der Kommunikation, die Entscheidungsstrukturen und die notwendigen Realisierungsschritte des Projektes sollten ebenfalls enthalten sein.

 

Fähige und menschlich kompetente Mitmacher suchen, die die Ziele mittragen und realisieren wollen

Diese Kern- oder Aufbruchgruppe darf sich erlauben, weitere Mitwirkende auszuwählen und die Kriterien des Einstiegs festzulegen. Wichtig ist es, ein Gespür für die eigene Mitte zu finden [was heißt das mit anderen Worten?], um in eine Bestimmerkraft eintreten zu können, die andere nicht ausgrenzt oder arrogant wird. (keine Grundsatzdiskussionen mehr)

Eine Kultur des Vertrauens durch innere Gruppenarbeit und geeignete Kommunikationsmethoden und Rituale schaffen (auch mit Hilfe von Experten z.B. aus anderen Gemeinschaften oder Gruppentherapien)

Kein Konzept, keine Struktur und keine Vision kann unsere Fähigkeit zu authentischer Wahrnehmung und Kommunikation ersetzen. Innere Friedensarbeit und persönliches Wachstum ist die Essenz von Gemeinschaftsbildung.

 

Sich bei gemeinsamer Arbeit an praktischen Projekten kennenlernen!)

Das Leben selbst ist unser größter Lehrmeister. Ohne sich gegenseitig in längeren Zeiten gemeinsamen Arbeitens und Lebens (z. B. in Zeiten bei anderen Gemeinschaften, oder in mehrwöchigen Praxisprojekten mit Kind und Kegel in den Ferien) erfahren zu haben, sollte keine Gruppe zusammenziehen.

 

Die Anfangsgruppe definieren und den Weg im Gehen erschaffen.

Die erweiterte Kerngruppe wird zum Projektträger, wenn sie das Risiko der Realisierung eingeht und dafür rechtliche und finanzielle Verbindlichkeit schafft (speziell beim Ein- und Ausstieg und zwischen ErstbewohnerInnen und Mittragenden/-finanzierenden). Kompetenzen und Leitungsqualitäten müssen erkannt und Aufgabenbereiche abgesteckt werden. Ein vielgliedriger Organismus - eine soziale Skulptur - entsteht, in der alle Teile gesehen werden wollen (z.B. durch Aufnahme- und Anerkennungsrituale)

 

Bei allem Realisierungseifer und Projekternst sollten wir jedoch nie den Humor und die Tatsache vergessen, dass wir alle Lernende auf einem unbekannten Weg sind. Alle gemachten Fehler sind ein Geschenk an die Gruppe, wenn sie bereit ist vorurteilsfrei und mutig hinzuschauen.

 

 

Phasen der Gemeinschaftsbildung

Es ist dabei hilfreich, sich den Prozeß der Gemeinschaftsbildung unter strukturellen Gesichtspunkten genauer anzusehen: Welche Dynamiken und Phasen treten immer wieder auf? Welche Auswirkungen haben bestimmte Entwicklungsphasen, Gruppengrößen und Gruppenformen auf das Zusammenleben und das eigene Bewußtsein? Dabei handelt es sich bei den folgenden Thesen um Erkenntnismodelle, die in der Realität in so reiner Form kaum vorkommen werden und deren Folgen auch nicht zwangsläufig und linear stattfinden müssen. Sie sind als Anregungen zu lesen, die helfen können, den eigenen Prozeß bewußter zu gestalten.

Auch eine Gemeinschaft ist ein eigenes Lebewesen mit einem Lebensalter und einer Biographie. Wie die Entwicklung des Einzelnen und der Menschheit so folgt auch die Entwicklung der Gemeinschaft bestimmten Geburts- und Entwicklungsphasen. Ein Kind z. B. wird gemeinschaftlich gezeugt und und genährt, aber es wird als Egoist geboren: seine Ohnmacht und seine Allmacht sind eins, es erlebt sich nicht als von der Welt geschieden. Diese frühe infantile Verschmelzung ist eine rein sensomotorische Einheit, noch keine bewußte spirituelle Vereinigung mit dem Kosmos. Sie ist Ausgangspunkt und nicht Endpunkt der Entwicklung. Ähnlich vorbewußt erlebte die Menschheit die ursprüngliche Einheit ihrer Existenz. Und so verführt die tief in unseren Zellen verankerte Sehnsucht nach Vereinigung uns immer wieder dazu, in vorbewußte Formen von Gemeinschaft zurückzufallen. Interessant für den Gemeinschaftsaufbau ist dabei die folgende Beobachtung: Wenn das Kind sich schließlich seiner Subjektivität bewußt wird, kann es sich seiner Egozentrik entledigen und die vielfältige Wahrheit besser sehen. Wenn die Menschheit ihre Unterschiede anerkennt, kann sie zur Weltgemeinschaft werden. Wenn Verliebte sich gegenseitig erkennen, kann dauerhafte Liebe entstehen. Selbstentwicklung durch Selbsttranszendenz ist ein Prinzip der kosmischen Evolution.

 

Die folgenden Phasen der Gemeinschaftsbildung zeigen ein Modell dieser qualitativen Entwicklungsstufen. In der Realität sind diese Phasen natürlich vielfach überlagert und Rückschläge normal. Es ist wie bei einer Spirale, die immer wieder an die selben Punkte gelangt, aber auf einer höheren Ebene der Erfahrung. Das Bild der Spirale bietet uns ein Erkenntnismodell, das uns von der ursprünglichen vorbewußten Einheit zur geistigen Einheit in der entfalteten Vielfalt führt: von der Abhängigkeit über die Unabhängigkeit zur wechselseitigen Beziehung.

 

Das Bild der Spirale

8. Wir
Einheit in der Vielfalt/Gemeinschaft

7. Ich im Du
Integration/größeres Selbst

6. Du
Wahrnehmung/Akzeptanz

5. Du&Ich
Wachstum/Qualitätssprung

4. Ich&Du
Vielfalt/Dialog

3. Ich?
Selbstverantwortung/Bewußtwerdung

2. Du!
Polarität/Konflikte

1. "Wir"
Einheit/Pseudogemeinschaft

 

1.Ebene der Einheit

Am Anfang jeder Gemeinschaftsbildung steht das "Wir"-Gefühl. Es ist die euphorische Phase der Gemeinsamkeiten, der großen Visionen, des aufopfernden Alltags. So etwas wie Verliebtheit. "Wir wollen doch alle dasselbe"-ist das Mantra dieser Phase der "Pseudo"-Gemeinschaft. Der Einzelne empfindet sich als Teil eines großen Ganzen- und will auch nichts anderes sehen. Der Preis dieser Gemeinsamkeit ist die Verdrängung der Unterschiede. Bis es knallt !

2.Ebene der Polarität

Schon bald werden schmerzlich die Unterschiede deutlich, die Anfangsenergie ist erschöpft, der Mantel des Schweigens wird gelüftet. Das Gegenüber wird mit Vorwürfen bedacht. "Du hast mich enttäuscht! Du hast mich nie geliebt! Du mußt dich ändern! "...sind die Mantren dieser Phase. Es kommt zu Lagerbildungen und das Chaos regiert. Viele Gemeinschaften -und Beziehungen- zerbrechen in dieser Phase.

 

3.Ebene der Bewusstwerdung

Das Chaos kann eine schöpferische Energie sein, wenn der Einzelne für sich die Verantwortung übernimmt und die Erfüllung seiner Vorstellungen nicht länger von den anderen einfordert. Vielleicht war doch Ich es? Vielleicht kann ich doch etwas ändern ? Vielleicht hat das was mit mir zu tuen ? "Ich und immer wieder ich"- so lautet das ernüchternde Mantra dieser Phase. Hier gilt es, aus der Opferrolle auszutreten und sich seiner Selbst mit allen Licht- und Schattenseiten bewußt zu werden. Dies ist der entscheidende Wendepunkt, der bewußte Gemeinschaft erst ermöglicht.

 

4.Ebene der Vielfalt

Selbstverantwortung und die Verinnerlichung der Konflikte ist die Voraussetzung für einen konstruktiven Dialog, bei dem sich gleichberechtigte Individuen gegenüberstehen. Ich und Du können sich begegnen und sehen und achten lernen. "Ich bin einmalig und könnte doch jeder andere sein"-so könnte das Mantra dieser Phase heißen. Wenn die Einzelnen sich von ihrem Ego ablösen, kann die Mitte der Gemeinschaft leer werden und der Geist der Wahrnehmung eintreten.

 

5.Ebene des Wachstums

An diesem Punkt der Gemeinschaftsbildung angelangt, kann die Gemeinschaft sowohl innerlich wie äußerlich wachsen. Es ist der Umschlagpunkt von Quantität zu Qualität, von der Konfrontation zur Kooperation. Ein neues Wir-Gefühl kann entstehen, das auf individuellen Beziehungen aufbaut. "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" -ist das Mantra dieser Phase. Die wachsende Vielfalt kann zu einer Bereicherung werden, wenn die Unterschiede akzeptiert werden und die eine große Wahrheit beginnen kann, sich in ihren vielen Facetten zu zeigen, in der Wahrheit jedes einzelnen Teils.

 

6.Ebene der Einheit in der Vielfalt

Diese Herausbildung einer differenzierten Gemeinschaft kann perspektivisch zu einer Erweiterung des individuellen Bewußtseins führen. Das Ich im Du erlebt sich immer öfter als Teil eines Organismus: es fühlt sich nicht mehr bedroht sondern ergänzt von den anderen. "Ich bin ein Teil von Dir- Du bist ein Teil von mir" ist das Mantra des kommunitären Ich. Der Einzelne empfindet sich als Ganzes und Teil eines größeren Ganzen. So entsteht die Fähigkeit, sich selbst in dem Anderen zu erkennen, sein Herz offen zu halten und in Übereinstimmung mit dem eigenen größeren Selbst zu handeln. Es ist der noch seltene Zustand der Gnade, der Wiederspiegelung der kosmischen Ordnung im eigenen Bewußtsein- die Kommunion mit dem Lebendigen.

 

Oder ist es doch nur wieder eine Variante der euphorischen Pseudo-Gemeinschaft in einem neuen Kleid? Der Beginn einer neuen Anfangsphase, die einige Wahrheiten übertreibt und andere dabei verdrängt? Eine neue Drehung der Spirale zur Erweiterung des Bewußtseins?

 

Auf jeden Fall eine Einladung zu weiterem Wachstum!

 

Auf jeden Fall nur der Mikrokosmos einer kleinen Gemeinschaft, die sich wiederum als Teil eines größeren Ganzen- der jeweiligen Region, der Gesellschaft und der Menschheit -entfalten kann: konzentrische Kreise und spiralförmige Entwicklungsstufen ohne Ende.

 

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